Arbitrarität und Substanz
Michael Seibel • (Last Update: 17.01.2018)
Etwas auf seine Struktur hin zu untersuchen ist an sich kein spezifisch modernes Vorhaben, sondern von Anfang an ein Hauptteil wissenschaftlichen Arbeitens. Die Alchemie tut das ebenso wie die Astronomie, und daher konnte ein Isaak Newton gleichzeitig Alchemist und Naturforscher sein, was heute vielfach nicht mehr verstanden wird. Spekulationsgegenstand und sozusagen Gedankenmagnet waren die Kräfte. Bei den Strukturen war man sich viel sicherer. Feudale Lieblingsstruktur ist zweifellos die Baum-Struktur, mit der Genealogien beschrieben werden. Moderne Strukturalisten fallen hingegen viel eher dadurch auf, daß sie anders als ein Newton so etwas wie Fans kraftloser Wirkungen sind, daß Wirkungen den Platz der Kräfte eingenommen zu haben scheinen.
Wenn die Geltung einer beliebigen Entität verstanden werden soll und dabei der Begriff der Struktur bemüht wird, so will man normalerweise zum Ausdruck bringen, daß die Geltung von etwas nicht durch irgendeine substantielle Qualität dieser Entität zustandekommt, schon gar nicht durch eine von der Entität getragene Kraft, sondern daß sie von der Funktion abhängt, die die Entität in einer Struktur einnimmt.
Frau Adam wird niemandem in der Abteilung, in der sie arbeitet, irgendwelche Anweisungen geben können, wenn sie dort nicht die Funktion einer Vorgesetzten einnimmt. In dieser Funktion, welche genau das auch immer ist, wäre sie natürlich gegen Herrn Eva austauschbar, dessen Weisungsbefugnis dann ebenso aus seiner Funktion im Unternehmen entspringen würde und aus nichts anderem, falls er der Abteilungsleiter wäre .
Wie man weiß heißt das aber nicht, daß Herr Eva oder Frau Adam keine besonderen Qualitäten mitbringen müssen, um die Funktion, welche auch immer, auszufüllen. Nicht ohne Grund hatten beide Einstellungsprozeduren zu überstehen.
Das Bild vom Kristallgitter
Das Bild, mit dem der klassische Strukturalismus gern verdeutlicht, daß eine Struktur ein System von Differenzen ist, ist das Kristallgitter. Es ist ein räumliches Modell mit synchroner Struktur. Im Gitter herrscht Gleichzeitigkeit. Die darin geltenden Gesetze werden, sofern man behauptet, sie zu kennen, gern als etwas Synchrones beschrieben. Durch seinen – am absoluten Nullpunkt sogar stabilen – Ort im Kristallgitter unterscheidet sich jedes Atom von jedem anderen Atom und nicht durch seine eigene Beschaffenheit. Betrachtet man nur die Beschaffenheit, sagen wir im Kristallgitter des Diamanten, dann ist ein Kohlenstoffatom wie das andere, und von einem System von Differenzen kann keine Rede sein. Die Qualität, die nicht vom Gitter zu dessen Elementen kommt, sondern das Gitter umgekehrt von seinen Elementen aus bedingt, die Qualität, die darin besteht, daß es sich um Kohlenstoff handelt, spielt also für die Unterscheidbarkeit der Einzelbestandteile des Gitters voneinander keine Rolle, so notwendig es für den Diamanten auch ist, aus Kohlenstoff zu bestehen.
Nun ist Saussures Gegenstand bekanntlich die Sprache und nicht der Diamant. Saussures Grundgedanke: Er hält die klassische Vorstellung für falsch, daß beim Sprechen Lautmaterial benutzt wird, um unausgesprochenen Gedanken, die bereits in irgendeiner Form vorsprachlich mental existierten, zum Ausdruck zu verhelfen und er lehnt daher jeden binären Zeichenbegriff ab. Die Artikulation ist seiner Ansicht nach eben keine Vermählung von Gedanke und Laut. Er ersetzt daher im Lauf der Zeit die Begriff signe für Zeichen, Signifikat für Bezeichnetes und Signifikant für Bezeichnung, die er im Cours de Linguistique générale noch verwendet, durch den einheitlichen Begriff des Sème. Der mentale Zeicheninhalt (Parasème) ist nicht früher als der Laut (Aposème). Beides, Signifikant und Signifikat sind Aspekte der Artikulation des Zeichens. Bedeutung wird dabei als Effekt der Artikulation des Zeichens innerhalb einer Sprachstruktur verstanden. An sich selbst haben Signifikant oder sème keinerlei Bedeutung. Eigenqualitäten der sème spielen keine Rolle. Sie sind arbiträr („nullité du sème en soi“). Dies prima vista anders als beim Diamanten, der keiner wäre, brächten seine Atome die Eigenqualität, C-Atome zu sein, nicht mit. Natürlich ist damit auch beim Diamanten das letzte Wort nicht gesprochen, denn man wird wahrscheinlich eine Strukturtheorie der Kristalle entwerfen können oder bereits entworfen haben, die die erforderliche Eigenqualität der ein Kristall bildenden Atome zugleich auch von den Erfordernissen der räumlichen Struktur des Kristalls her denkt, mithin als Effekt der Struktur. Als Nicht-Physiker bin ich in diesem Punkt auf Vermutungen angewiesen. Ich meine, die Cluster-Physik müßte so etwas zu bieten haben.
Das Bild vom Kristallgitter als Illustration des Begriffs einer Struktur zeigt ein mehr oder weniger zeitloses Nebeneinander der Elemente, also im Fall der Sprache der sprachlichen Zeichen. Die Artikulation ist demgegenüber ein lineares, diachrones Ereignis. Die Zeichen werden beim Sprechen nacheinander verwendet und beim Lesen nacheinander aufgefaßt. Differenz der sème wird als ein zeitliches Nacheinander erzeugt. Im zeitlichen Nacheinander also und nicht in einem räumlichen Nebeneinander zeigen sich die Differenzen. Wie immer wird auch hier ein Zeitbegriff gebraucht, um Veränderung zu denken. Unterscheidbarkeit beginnt in der Artikulation mit der Abtrennung eines Zeichens vom nächsten.
Wo bleibt die Substanz?
Ist denn damit die ousia verabschiedet, die Substanz, das, was seit Platon als unveränderliches, eigentliches Sein verstanden wird1, das Feste, Unvergängliche, oder bei Aristoteles das ›Zugrundeliegende‹, das hypokeimenon und damit zusammen das Gemisch der späteren lateinischen Begriffe subiectum, substratum, essentia, quidditas, forma substantialis?
Haben die Einzelwissenschaften dies Verschwinden nicht längst vorgeführt? Wurde da nicht lange Zeit das Kleine und immer Kleinere für substantieller gehalten als das aus Kleinem gebildete Größere, und wurde am Ende die Substanzvorstellung nicht durch Quantenmechanik und Feldtheorien gänzlich obsolet und selbst das Kleinste aufgelöst? Der Strukturalismus reiht sich da offenbar ein. Der Signifikant hat ja ausdrücklich keinerlei eigene Substanz und sein Signifikat ebensowenig, das für den strengen Strukturalisten im selben Akt des Ausdrucks gebildet und bewußt wird wie der Signifikant. Wir erinnern uns, daß traditionell allein durch die ousia das Wissen als »unwiderlegbares und unerschütterliches Reden«2 gegenüber bloßem Meinen (doxa) möglich schien. Die „nullité du sème en soi“ markiert also nicht allein ein ontologisches, sondern auch ein epistemologisches Problem.
Daß sich Wissen nicht mehr als »unwiderlegbares und unerschütterliches Reden« verstehen läßt, sondern als prinzipiell falsifizierbares und mithin erschütterbares Reden, irritiert spätestens seit dem 20. Jahrhundert kaum jemand mehr wirklich. Ganz im Gegenteil sind heute nur grundsätzlich falsifizierbare Aussagen vertrauenswürdig. Die Eigenschaft der Falsifizierbarkeit ist ebenso ein Qualitätsmerkmal von Aussagen wie die Tatsache, daß die betreffende Aussage (noch) nicht falsifiziert ist. Jede ordentliche Aussage lebt sozusagen im Angesicht ihres eigenen Todes. Die Aussagen, die Proposition wird zu etwas Geschichtlichem als in der grundsätzlichen Möglichkeit stehend, falsifiziert zu werden. Heute noch mag sie als wahr gelten, morgen kann sie widerlegt sein und gestern hat sie noch niemand aufgestellt. Was als wahr gilt, hat Geschichte. Wahrheit aber bleibt geschichtslos das Bleibende, das es von Anfang an war im Gegensatz zu dem, was veränderbar und damit Gegenstand der téchne ist.
Einmal als arbiträr verabschiedet, erscheint die Substanz jedoch wieder neu, nunmehr jedoch als Funktion der Struktur. In der Abteilung von Frau Adam ist es für jeden ihrer Weisungsbefohlenen durchaus substantiell, in Frau Adam ihren Chef zu sehen, und die Position der Vorgesetzten als Funktion der Struktur auch wirklich mit der Person von Frau Adam zu identifizieren, wie sie denn leibhaftig vor ihren Mitarbeitern steht und spricht und all die Sprachhandlungen vollzieht, die die Sprechakttheorie aufzählt, versprechen, anweisen, motivieren, schmeicheln, sachlich beschreiben, drohen etc., hängt doch davon der Verbleib jedes einzelnen im Unternehmen entscheidend ab. Was aus dem Mund von Frau Adam kommt, das gilt und hat Substanz. Das glaubt sich Frau Adam sogar selbst und das ist sie auch bereit, persönlich zu verantworten. Der Heilige Geist ist Leib geworden. Die Funktion wird also für jeden Mitarbeiter zur Frage von Sein oder Nichtsein, zwar nicht als Lebender in der Welt, wohl aber als Mitarbeiter im Unternehmen. Die Funktion wird damit zur Quasi-Substanz. Allerdings zu einer, die sich jederzeit auf die Struktur zurückführen läßt und außerhalb ihrer (fast) keinen Bestand hat. 'Fast' will sagen, das Wissen bezüglich der Funktion und damit auch zumindest die Ahnung um den quasi-substantiellen Charakter der Geltung von Frau Adam schwappt gleichsam jederzeit über auf diejenigen, die sie in anderen Zusammenhängen kennen und ihr außerhalb ihres Arbeitsplatzes begegnen. Frau Adam erfährt, klassisch gesagt, die Achtung ihrer Mitmenschen.
Und so abwegig und zugleich vertraut das in den Ohren eines eingefleischten Strukturalisten immer klingen mag: wenn Frau Adam die Achtung vieler ihrer Mitmenschen erfährt, die sich auf das Wissen um ihre Geltung im Büro stützen, dann ist es gerade die Quasi-Substantialität dieser Geltung als Eigenschaft von Frau Adam, die es erlaubt, auch im Privatleben eine Struktur zu entdecken. Denn da es echte Substantialität nicht gibt, wenn Bedeutungen zwar nicht beliebig, aber arbiträr sind, muß ja wohl die Geltung von Frau Adam ein Effekt der Struktur des Privatlebens sein. In der Konsequenz verwandelt sich alles Seiende in ein Geflecht von Strukturen, die aufeinander verweisen. Für Lacan beschreibt Freud mit dem Unbewußten eine Struktur, für Althusser beschreibt Marx mit dem Kapital eine Struktur, etc., all das wegen der schier unendlichen Übertragbarkeit quasi-substantieller Eigenschaften, weil sich etwas, das einmal als Effekt einer Struktur beschreibbar war, identisch anderswo wiederfindet. Das bestätigt die Strukturalisten, denn genau das ist ja das „Gleiten des Signifikanten“, der eben nicht nur durch das Arbeitsleben von Frau Adam gleitet, sondern auch durch ihr Privatleben. Strukturalismus, Funktionalismus oder Konstruktivismus sind auf diese Weise längst zu generalisierten epistemologischen und ontologischen Haltungen der Humanwissenschaften geworden.
Leistung als hypokeimenon, als ›Zugrundeliegendes‹ wird außerdem dem Begriff der Struktur zugetraut. Es wird so etwas wie ein Sein der Struktur behauptet, indem man vom Begriff der Struktur erwartet, wahre Aussagen etwa über die Sprache, die Mythen, die Psyche oder was sonst immer mittels des Strukturbegriffs aufgeklärt werden soll, zu ermöglichen.
Nun wird im Neostrukturalismus sozusagen die Temperatur des Kristallgitters vom absoluten Nullpunkt leicht angehoben, und sofort kommt es zu Turbulenzen. Das Gitter verliert seine Festigkeit und damit verliert jedes einzelne Partikel die Bestimmung seiner Differenz als Unterschiedenheit von allen anderen und muß sich damit begnügen, sich innerhalb einer äußerst beweglichen, sich ständig verändernden Umgebung nur mehr von jeweils endlich vielen und dazu noch wechselnden Nachbarpartikeln zu unterscheiden. Der Signifikant muß mithin nicht wirklich das Universum aller anderer Zeichen abklappern, bevor in der Prozession aller Differenzen sein eigener Sinn klar ist. Es reicht die vergleichsweise kurzschlüssige Passage entlang seiner wechselnden Nachbarn, allerdings nur zu einem Zeichenwert, der mit der Verwendung in seinem jeweiligen sozialen und historischen Umfeld wechselt. Man denke an Ausdrücke wie Volk, Ausländer, Nächstenliebe oder Dieb und man entdeckt leicht das zugleich Provisorische und Rigide der wechselhaften Verwendungen. Der Wert des Zeichens erweist sich auch noch in einer zweiten Hinsicht als eine äußerst zweischneidige Angelegenheit. Einerseits ist das Nacheinander der Zeichen, die Artikulation als diachrones Ereignis Bedingung der Möglichkeit von Differenz, aber genau diese Diachronie durchstreicht jede Gegenwärtigkeit von Sinn, macht Sinn zu etwas Verpaßten, Gewesenem, macht Sein zu Wesen, das auf die Antwort des Anderen, des Interpreten zu warten hat, um immer erneut provisorisch auf eine bestimmte Bedeutung festgelegt zu werden. Das System (so der klassische Ausdruck) verliert damit sein Zentrum und seine Außengrenzen. Es hat nicht nur einen (Sinn-)Horizont, den es für die Hermeneutik schon immer hatte, vielmehr geht an ihrem Sinnhorizont von nun an die Sonne der Einheit verbürgenden Prinzipien der abendländischen Geistesgeschichte wie Feuer, Sonne, Gott, des Guten und schließlich des neuzeitlichen Subjekts unter und nicht mehr auf. Und die Struktur (so der spätmoderne Ausdruck) ist für einen äußeren Betrachter nicht mehr gesamthaft beschreibbar, wie noch für Saussure. Man wechselt daraufhin die Modellvorstellung. Statt mit einem Kristallgitter bekommt man es mit Netzwerken oder Schwärmen zu tun oder sogar mit etwas, auf das sich bereits die Romantik gern bezogen hat, mit Organismen und den Systemen ohne Zentrum der Systemtheorie.
Das 'ganze' Netz
Aber ob Kristall, Netz oder Schwarm, diese drei Modellvorstellungen haben nach wie vor gemeinsam, daß sie Ganzheiten präsentieren und nicht etwas, das hinterm Horizont weitergeht wie das Rhizom oder ein Myzel, von dem man nicht weiß, wo es endet. Das Subjekt der Moderne überlebt als Modellbauer und Techniker, ohne dabei länger die Bedingungen seiner eigenen Möglichkeit zu verstehen. Damit fragt sich, zu was Kristall, Netz oder Schwarm als Modellvorstellungen überhaupt taugen sollen, wenn das, was sie modellhaft als Ganzes vorstellen, seinerseits unüberschaubar ist, man also nicht in der Lage ist zu bestimmen, ob es sich um ein getreues Modell handelt oder nicht. Das Netz einer Spinne läßt sich normalerweise auf einen Blick in Gänze erfassen. Es ist natürlich nicht in Gänze verstanden, wenn es nur in Gänze angeschaut wird, aber immerhin läßt sich seine sensationelle Elastizität, eine Eigenschaft des Ganzen, ohne weiteres erproben, indem man einfach dagegen pustet. Das Internet dagegen ist eine gänzlich unanschauliche Angelegenheit. Ein Netz ohne Spinne. Eine flächendeckende oder sogar räumliche Anordnung von miteinander verbundenen Punkten, deren Leistung die Informationsübertragung ist und nicht die Chance, Insekten einzufangen.
Über die Anschaulichkeit des Internet läßt sich streiten, wieviel auch immer es darin zu sehen gibt. Immerhin erfordert es Hardwarekomponenten, Rechner und Leitungen, die man sich im großen vorzustellen hat wie die Serverparks von Google, die schon 2010 einen Energieverbrauch in Betrieb von mehr als 200.000 US-Haushalten hatten, nur eben noch mehr als all diese Serverparks zusammen. Andererseits hat die Softwarestruktur zwar keinerlei Anschaulichkeit, scheint aber zunächst auch nicht wirklich modellbedürftig. Wozu sollte man ein Modell für etwas benötigen, das im laufenden Betrieb beweist, daß es läuft, mithin also offensichtlich auch verstanden ist, das sozusagen immer schon sein eigenes Modell im Maßstab eins zu eins ist? Man sieht die Software nicht, aber sie funktioniert und sie besteht in Gänze aus Zeichen. Das sollte uns Zeichenverstehern entgegenkommen. Da ist sie also wieder, die Struktur. Man hat Regeln, die man in diesem Fall (anders als bei Saussures Frage nach der Struktur der Langue) nicht einmal herausfinden muß, weil man sie selbst erfunden hat, weil die Formulierung der Regel, die Programmierung, den Startpunkt der Etablierung des Netzes und seiner Struktur ausmacht.
Schwarmintelligenz
Und gleich nebenan bei den Schwärmen scheint sie auch wieder vorzuliegen. Ein Starenschwarm, bis zu 1000 Einzelindividuen. Ich finde folgende Notiz:
„Ob das Schwarmverhalten auch mit der Futtersuche zusammenhängt? Diese Frage analysiert der englische Ornithologe Dan Parkinson. Der junge Forscher der königlich-britischen Vogelschutzgesellschaft beobachtet Stare, die im Seebad Brighton überwintern. Ihm ist aufgefallen, dass Stare während der Flugmanöver versuchen, in die Mitte des Schwarms zu rücken. Dan Parkinson nimmt an, dass die fittesten Vögel ganz im Inneren der Schar fliegen. Dort sind sie vor Feinden am sichersten. Diese besonders fitten Vögel kennen auch die besten Futterstellen. Wer es schafft, neben ihnen zu fliegen, kann ihnen leicht dorthin folgen.“3
Wer nicht weiter weiß, kommt gern zurück auf den etwas abgestandenen Mythos von struggle for life. Also doch wieder ein Zentral-Subjekt, ein Star aller Stare, ein Star mit Charisma? Wie dem auch sei, sein Wissen bestünde nicht im Wissen über die Struktur des Schwarms, sondern im Wissen ums Futtern, und wo nicht darüber, so wenigstens über den idealerweise zum Nachbarn einzuhaltenden Flugabstand. Mitte der 90er Jahre wurden Ameisen auf der Futtersuche zu Modellieferanten für agentenbasierte Optimierungsmodelle beim sogenannten Problem des Handlungsreisenden (Traveling Salesperson Problem (TSP)). Frage dabei ist, was die optimale Streckenführung eines Handlungsreisenden ist, der möglichst ökonomisch seine Besuchstermine planen muß oder ins Große gedacht, einer Bahngesellschaft bei der Organisation ihrer fahrplanmäßigen Verbindungen, beim Design der Knotenpunkte eines elektronischen Schaltkreises oder ins ganz Große: bei der Optimierung weltweiter Routing-Tabellen im Internet. Das Problem des Handlungsreisenden ist alles andere als ein triviales Problem der Diskreten Mathematik. Wenn z.B. 18 Orte angefahren werden sollen, gibt es unter der Voraussetzung, daß jeweils die Wege zwischen zwei Orten in Hin- und Rückrichtung gleich lang sind (man spricht von symmetrischem TSP) 177 Billionen Routen, von denen eine oder einige wenige optimal sind. Dafür gibt es exakte Lösungen. Nachweislich optimal gelöst, wenn auch unter Zuhilfenahme von Heuristiken wurde das Design eines integrierten Schaltkreises mit 33.180 Knoten.4 Bei Heuristiken geht man davon aus, daß entweder keine Ideallösungen zur Verfügung stehen oder daß sie mit vertretbarem Aufwand nicht gefunden werden können. Wir sind also den Ameisen zu Dank verpflichtet. Sie sind dabei, den klassischen Subjekt des Wissens, dem Mathematiker, auf die Sprünge zu helfen.
Anmerkungen:
1 »Zuerst nun haben wir, meiner Meinung nach, dies zu unterscheiden: was ist das stets Seiende (to on aei), das Entstehen nicht an sich hat, und was das stets Werdende, aber niemals Seiende; das eine, stets gemäß demselben Seiende ist durch Vernunft mit Denken zu erfassen, das andere dagegen durch Vorstellung vermittels vernunftloser Sinneswahrnehmung vorstellbar, als entstehend und vergehend, nie aber wirklich seiend (ontos de oudepote on)« (Platon, Timaios 27D-28A)
2 Platon, Timaios 27D-28B
3 http://www.daserste.de/information/wissen-kultur/w-wie-wissen/sendung/2010/das-geheimnis-der-starwolke-100.html
4 Quelle: http://www.math.uwaterloo.ca/~bico//papers/DP_paper.pdf
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